Der Algorithmus des Appetits
Die Öffentlichkeit macht sich Algorithmen zu eigen, wie man sie von TikTok, Instagram, Twitter & co. kennt.
Es erscheint mir zurzeit ungleich viel mehr common sense zu sein, dem Eigentlichen etwas, was ihm ähnlich ist, anzubieten: Demokratie jemandem, der mal richtig „durchregiert“, Fakten den Meinungen und dem Hunger den Appetit. Ein Verhalten, das man hauptsächlich von Kindern kennt, okkupiert die Politik.
Ein Kind mit einem Marshmallow vor sich wartet nicht 15 Minuten, um einen Zweiten zu bekommen, sondern es isst ihn sofort (das stellte Walter Mischel in seinem Marshmallow-Test fest). Das Kind weiß, dass die Belohnung höher wäre, wenn es wartet, aber es entscheidet sich trotzdem dagegen. Gerade weil es eben keine rationale Entscheidung ist. Es ist ein Appetit und auch das gute Recht des Kindes, das Marshmallow sofort zu essen. Erwachsene müssen sich jedoch klarmachen, dass das eine (der Appetit) impulsiv und emotional ist, während das andere (hier: der Hunger und also langfristige Bedürfnisse) rational oder zumindest überlegt ist. Gerade deshalb, weil Menschen vielleicht gar keinen Appetit befriedigen möchten, sondern ihren Hunger. Und sie möchten sich nicht einfach ernähren, sondern sie möchten das „gute“ Leben. Sie substituieren ihren Hunger mit Appetit, so wie man Fastfood zum Mittag isst (was ja auch überzeugend ist, schließlich ist es schneller, einfacher und günstiger). Das mit dem Finger zeigen: „Später, ja da werden Sie alle adipös und sterben schneller“, ist schön, jenen aber leider herzlich egal, ihr Problem scheint sich in Luft aufgelöst zu haben.
David Foster Wallace benennt dieses Problem in einem Interview, das er 2003 dem ZDF gab und hier auf YouTube zu sehen ist. DFW beschreibt diesen Ethos „Gratify your appetites, because wanna have fun all the time is the best way to sell you things“. Seit 2003 müsste man eine klare Verstärkung der Umstände vorfinden, deren zugrunde liegende Wirkkraft der Konsum (d.h. die Bedürfnisbefriedigung) ist.
Aktuelle Debatten, insbesondere die immer noch aktuelle Migrationsfrage, sind durch „Gratify your appetites“ gekennzeichnet. Das Narrativ, mit dem rechte Parteien Wahlwerbung machen, lautet ungefähr so: „Du willst keine Ausländer, dann schmeiß sie halt raus“. Ein Problem mit einer simplen Lösung ist gefällig, es lässt sich leicht hinunterschlucken und da ist es auch schon weg.
Möchten aber nicht selbst die Leute, die ihre Angst vor Ausländern nicht hinterfragen wollen (und die Angst ist emotional und impulsiv), mit größeren Konsequenzen, die unsere Demokratie vermutlich strukturell verändern würden, leben?
Der Apparat des Appetits ist tatsächlich ein Algorithmus geworden. Möchte sich eine Gesellschaft mit Problemen auseinandersetzen, hat die Öffentlichkeit eine Reihe von sehr effizienten und rechtsstaatlichen Möglichkeiten, es zu lösen. Von diesen sind nicht alle leichtgängig und schnell, sondern viele sind tatsächlich schwergängig und träge.
TikTok und sein Algorithmus lässt seine User durch Videos scrollen. Das macht den User sehr glücklich. Jedes Bedürfnis befriedigt TikTok - durchschnittlich etwa 1 h lang. In diesen Algorithmen ist „Gratify your appetites“ bereits angelegt.
Die Öffentlichkeit schreibt gerade an ihrem eigenen Algorithmus. In diesem Funktionieren rechte Narrative, Populisten und Meinungen, besser als Journalismus, Robert Habeck und Fakten. In diesem werden die Kausalketten der Welt, die auf uns einwirken, nicht mehr als Kette, sondern als kleineres Glied wahrgenommen. Jeder hat seinen eigenen Algorithmus, Senecas Kosmopolitismus gibt es nicht mehr, jeder hat Appetit und er befriedigt ihn! Nichts könnte bösartiger sein.